Sonatinen-Album
Wer
kennt sie nicht aus den früheren Klavierstunden, die Sonatinen von
Muzio Clementi, Friedrich Kuhlau oder Béla Bartók und hat sich nicht
auch die Zähne zerbissen – pardon, die Finger müde trainiert – an jener
C-Dur-Sonate von Mozart, die so gern als »Sonata facile« ausgedruckt
wird.
Für die Erinnerung und zugleich die Auffrischung der
Klavierstunden kommt Gerrit Zitterbarts Sonatinen-Album gerade recht.
Es ist hübsch aufgemacht und enthält neben dem schon erwähnten
Standard-Repertoire auch noch Werke von Beethoven, Reger, Ravel,
Schumann und – ganz zum Schluß als amüsant augenzwinkerndes Finale –
die »Sonatine bureaucratique« von Erik Satie. Letztere portraitiert
einen von seiner Beförderung träumenden Inspektor und zitiert genüßlich
eine Clementi-Sonatine. Gerrit Zitterbart spielt das alles elegant und
gut gelaunt, natürlich spieltechnisch perfekt. Er serviert in fast 70
Minuten Klavierbonbons, die vom Fachhandel bei ConBrioDisc bezogen
werden können und die Ohren vergnügt machen.
Hannoversche Allgemeine Zeitung August 1996
Den Verfechtern »autonomer« Kunst ist oft die »angewandte« suspekt,
verrate sie doch das Reich der Ideen an das der Zwecke. Mit Argwohn
wird denn auch – nicht selten zu Recht – die »pädagogische« Musik
betrachtet, das Repertoire der Übungsstücke und Etüden, mit denen
Anfängern, Kindern zumal, technische wie kompositorische Grundlagen
beigebracht werden sollen. Nun sind aber Geist und Materie so simpel
nicht zu trennen; und kein Pianist schließlich kann mit Ravels »Scarbo«
beginnen. Weit zudem ist das Spektrum der Sonatinen, mögen sie manchem
auch aus der Klavierstunde verleidet sein. Ein bestechendes Plädoyer
für die geringgeschätzte Gattung bietet die CD Gerrit Zitterbarts, die
belegt, welch hinreißende Musik auch scheinbar reduzierte Werke
Mozarts, Beethovens, Clementis, Kuhlaus, Schumanns, Regers, Ravels,
Bartóks und Saties enthalten: Mit geringerem Anspruch Überragendes zu
leisten ist jedenfalls weit wertvoller als hohle chef d’œuvre-Attitüde.
»Spielmusik« also muß nicht simpel sein. Zitterbart demonstriert dies
auch pianistisch distinkt und mit leichter Hand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung Mai 1996
Daniel Friedrich Rudolph Kuhlau, dänischer Komponist deutscher
Herkunft, ein Zeitgenosse und Bewunderer Beethovens, er komponierte
große Opern, Kammermusik, Konzerte und eine Fülle zwei- und
vierhändiger Klaviersonaten, zum Beispiel diese Sonatine a-Moll
op.88,3, aus der soeben Gerrit Zitterbart den ersten Satz spielte:
»Allegro con affetto«. Diese auf den ersten Blick so unscheinbare CD,
genannt: »Sonatinen-Album« (erschienen bei dem kleinen Label »gutingi«
in Göttingen, das seine Platten über den Musikverlag Liebermann
vertreiben läßt), diese CD hat es in sich. Sie präsentiert Musik, die
zu den bekanntesten Unbekannten gehört. Sonatinen spielt und hört man
heute eigentlich nur noch im Klavierunterricht. Sie werden zwar zu
Unterrichtszwecken viel benutzt, aber man hört und spielt sie
unvollkommen, sie werden nicht interpretiert, sondern scheibchenweise
heruntergestoppelt, man achtet nicht auf ihre musikalische Qualität,
sondern nur auf den Fingersatz. Sonatinen, das sind eben bloß kleine
Sonaten, auch genannt Exercise oder Sonata facile. Die klassischen
Sonatinen waren ja von den Komponisten auch meist als Übungsstücke für
ihre Klavierschüler gedacht und konzipiert, eben um gewisse
pianistische Fertigkeiten zu trainieren, Läufe, Baßfiguren, Arpeggien
usw.. Aber deshalb ist eine Sonatine noch lange keine bloße Anhäufung
von Fingerübungen. Sie hat ihre melodischen Schönheiten, sie hat
Gestalt und »Proportionen«, sagt Gerrit Zitterbart: denn die Sonatinen
sollten ja auch das musikalische Stilgefühl des Nachwuchses fördern.
Gerrit Zitterbart ist Ihnen vielleicht als Pianist des Abegg Trios ein
Begriff, welches teils preisgekrönte Einspielungen des klassischen
Repertoires (der Klaviertrios von Haydn, Mozart, Beethoven,
Mendelssohn, Schumann, Brahms, Dvorák und anderen) vorgelegt hat. Hier,
auf dieser Solo-CD, rehabilitiert Zitterbart nun diese vielbenutzte und
stiefmütterlich vernachlässigte klassische Gattung der Sonatine. Ein
seltenes Vergnügen! Und zugleich, was für eine wunderliche musikalische
Entdeckungsreise, diese bekannten Übungsstücke einmal nicht von einem
Kind geklimpert, sondern, nach allen Regeln der Kunst, von einem
Künstler und Könner gespielt zu hören.
Das war die Sonatine aller Sonatinen: Mozarts Sonata facile C-Dur KV
545. Sie hörten daraus den ersten Satz Allegro, gespielt von Gerrit
Zitterbart. Zitterbart geht in seiner kleinen Geschichte der Sonatine,
wie er sie auf dieser neuen CD des Labels »gutingi« vorstellt,
chronologisch vor, Kapitel für Kapitel, von Mozart über Clementi,
Beethoven, Kuhlau, Schumann, Reger, Ravel bis hin zu Bartók. Das
skurrile Ende dieser Geschichte ist dann die berühmte »Sonatine
bureaucratique« von Eric Satie. Satie hat in dieser 1917 komponierten
musikalischen Glosse gründlich abgerechnet mit der unseligen,
nervtötenden Clementisonatinenwirtschaft der Klavierpädagogen, er hat
die Banalitäten der Sonatine auf die Schippe genommen, aber der Gattung
damit zugleich auch ein liebevolles Epitaph gesetzt. Sein zwischen die
Noten, wie bei einem Opernklavierauszug hineingeschriebener Subtext,
die Geschichte dieser Sonatine, endet mit den Worten: »Ein Klavier
nebenan spielt Clementi. Wie traurig das ist... Das alles ist sehr
traurig. Das Klavier spielt weiter. Schade, er muß sein Büro verlassen,
sein geliebtes Büro. Nur Mut: Gehen wir, sagt er.«
Süddeutscher Rundfunk Schallplattenprisma Mai 1996